Vergessen?
Kinder leben im Hier und Jetzt, gestern ist vorbei und heute ist alles wieder neu. Zwar ist so einiges bekannt, es wiederholt sich, aber ebenso gibt es immer wieder etwas Neues. Wer gestern noch der Freund, die Freundin war, ist heute unter Umständen schon nicht mehr dabei.
Nach Gerhard Roth ist kindliches Lernen eine Informations-Reduktion und -Strukturierung, damit einher geht ein ständiges Vergessen, was noch nicht Erfahrung, im Bewusstsein, war. Wir Erwachsenen sind einer dauernden Informations-Überflutung ausgesetzt, nicht alles ist wichtig. Aber wie sortieren wir aus, ob wir es wollen oder nicht? Manchmal reicht es, kurz etwas anderes zu tun, und wir haben vergessen, was wir uns vorgenommen haben.
Konfuzius sagte: Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können. Hieraus wird klar, dass unser Gehirn unser Wissen je nach der Quelle, der Wiederholung, der Verknüpfungen anders aufbewahrt und wieder abruft. Außerdem ist das Gehirn nur begrenzt aufnahmefähig, d.h. bestimmte Informationen werden durch andere wieder überdeckt, verfremdet, manchmal aber auch geschärft.
Das, was wir nicht Vergessen wollen, versuchen wir aufzuschreiben, zu fotografieren, zu filmen, zu dokumentieren, um es für uns oder für alle aufzubewahren.
Arthur Daane, die Hauptfigur in Cees Nootebooms Roman Allerseelen (1998), ist Dokumentarfilmer. Es ist sein Job, bestimmte Ereignisse mit seiner Kamera einzufangen, aus vielen Bild- und Ton-Sequenzen eine nachvollziehbare Geschichte, einen Eindruck einer Situation herzustellen. Schaffen als Bewahren. Sein Blick, sein Gespür sind oft gefragt, so dass er viel in der Welt herumkommt, aber nur selten so etwas wie zu Hause oder Heimat kennt.
Seine Leidenschaft, fast schon Obsession, gilt den kleineren, unbedeutenden Geschehnissen am Rande, Veränderungen, die nur dadurch sichtbar sind, weil man eine Idee vom Vorher, Damals hat, die man bewahren will und deshalb dokumentiert? Was wird aus den Schnipseln, die er hier und da mit seiner Kamera aufnimmt? Menschen, Plätze, Bäume, Häuser, Baustellen … alles könnte eine Geschichte erzählen … aber wer außer Daane interessiert sich dafür?
Seine Berliner Freunde, seine Bekanntschaft aus der Bibliothek, haben ähnliche, aber jeder auf seine Art andere Zugänge zu den Veränderungen: Fotos, Gemälde, eine Doktorarbeit über frühe spanische Geschichte. Alle nehmen, gerade 10 Jahre nach der Wende, in Berlin wahr, wie sich alles rasant verändert, teilweise eben so, dass das was vorher war, nicht mehr zu sehen ist. Weg. Vergessen …
Aufbewahren? Wie ist das mit den Dingen, die wir seit Jahren mit/bei uns haben? Brauchen wir die? Ist es nur Gewohnheit? Haben wir das Gefühl, wir geben etwas von uns her, wenn wir diese weggeben, verschenken, vernichten, entsorgen? Aber sie waren doch nur da, vertraut, aber nicht essenziell, hatten keine alltägliche Funktion mehr. Sie erinnerten uns nicht wirklich an etwas Wichtiges. Und doch, plötzlich fehlen sie, aber der Eindruck verflüchtigt sich.
Vieles, was wir heute so als selbstverständlich nutzen, gab es vor, sagen wir, vor 30 Jahren noch gar nicht. Aber diese Geräte haben etwas anderes verdrängt … vermissen wir es? Haben wir schon vergessen, wie es vorher war? Ist es sinnvoll sich daran zu erinnern?
Geschichte, die Professionelle Behandlung des Vergangenen, hilft uns bei der Aufarbeitung vergangener Zeiten, zu verstehen, warum bestimmte Konstellationen zwischen Menschen, Staaten, Völkern, so sind , wie sie sind. Können wir daraus lernen, uns heute anders zu verhalten?
Wir hatten geglaubt, dass nach den unzähligen Kriegen der Mensch aus dem Leid, der Zerstörung, dem Tod vieler Menschen, gelernt hätte, andere Mechanismen zu entwickeln, wie wir gegenseitig die Unterschiede zwischen den Menschen durch Respekt und Solidarität überwinden könnten. Stattdessen werden die Möglichkeiten des Massenmordes, der globalen Zerstörung, der wirtschaftlichen Ausbeutung, der menschen-verachtenden Abgrenzung immer perfekter.
Bewahren? Manches gilt uns als heilig, als ein Schatz, als etwas, das wir schützen und bewahren sollten. Dazu gehören Kunst- und Bauwerke, sakrale wie säkulare, aber auch Landschaften, Schutzzonen für Tiere und Pflanzen. Mit welchem nostalgischen Blick nehmen wir wahr, dass es hier und da und dort mal so oder so war … und heute doch so anders. Natürlich entwickelt sich nicht immer zum Guten, zum Positiven … leider. Aber dann müssten wir immer schon vorher wissen, was die Zukunft bringt.
Das Leben ist ständige Veränderung. Es gibt keinen Stillstand, egal wie wir an etwas, was uns lieb und teuer ist, festhalten. Heute ist heute, Morgen ist etwas anderes.
Wir sollten den Mut haben, heute alles zu tun, dass es Morgen nicht schlechter wird als heute, dass wir uns allen Menschen zuwenden, dass die Natur (zu der wir selbst dazugehören) nicht zerstört wird. Damit können wir vieles bewahren, was uns heute ein gutes Leben ermöglicht. Aber alles, was heute nicht funktioniert, ungerecht ist, Mensch, Tier und Pflanze schadet, Natur vernichtet, Schätze zerstört, sollten wir ändern, dass dieser Planet ein lebenswerter Raum für viele, viele Menschen ist.
Vergessen? Ich glaube, es nicht wichtig, sich alle Details von Gestern auf Heute auf Morgen zu merken, sondern Ziel, Zweck, Wert und Wirkung der Veränderungen, die Lehre, die man daraus ziehen kann usw., vergegenwärtigen, um ggf. Gegenzusteuern, einen anderen Weg zu wählen. Eine Restaurierung kann auch nur ein bescheidender Versuch sein, etwas zu korrigieren, wiederherzustellen, aber ein Zurück gibt es nicht.